Weiterführende Erklärungen zur Redewiedergabe-Annotation

Prototypen und Grenzfälle

Mit dem Attribut border werden Fälle markiert, die Handlungen ausdrücken, welche an der Grenze der Definition von Rede, Gedanken oder Geschriebenem liegen. Es geht hier nicht um die Interpretation der Textwelt, sondern um die Definition dieser Phänomene. Aufgrund ihrer besonderen Komplexität gibt es für Gedankenwiedergabe Werte, mit denen das Attribut border genauer spezifiziert werden kann: percept und state. Ansonsten erhält das Attribut immer den Wert unspec (unspezifiziert).

Im Folgenden wird ausgeführt, wie die Prototypen von Rede, Geschriebenem und Gedanken für die manuelle Annotation definiert sind und welche Grenzfälle typischerweise auftreten.

Rede (speech)

Der Prototyp von ‚Rede‘ ist eine lautliche, kohärente Äußerung zum Zweck der Kommunikation. Instanzen werden dann als Randphänomene markiert, wenn nicht alle diese Merkmale vorhanden sind. Es gibt verschiedene Arten von Abweichungen, aber die folgenden Gruppen treten bei der manuellen Annotation besonders hervor.

Sonderformen des Sprechens

Bei Wendungen wie z.B. beten, segnen, zählen und singen ist nicht immer klar, ob ein kommunikatives Ziel vorhanden ist. Im Falle von beten und segnen wendet man sich an Gott, was nicht der normalen Kommunikationssituation entspricht. Zählen oder singen wird häufig ganz ohne Adressatenbezug durchgeführt.

(43) Er warf sich vor dem Bildnisse der heiligen Mutter Gottes nieder, und betete mit unendlicher Inbrunst zu ihr, als der einzigen, von der ihm jetzt noch Rettung kommen könnte. (Kleist: Erdbeben)

(44) Doch der kräftigste Segen, vor welchem das ganze Reich des Belials zitterte, und der Sprengwedel mit Weihwasser getränkt, der unter den bösen Geistern sonst aufräumte, wie die Fliegenklappe unter den Stubenfliegen, vermochte lange Zeit nichts gegen die Hartnäckigkeit der gespenstischen Amazonen [...] (Musäus: Entführung)

(45) Indem ich aß, sang sie mit kreischendem Ton ein geistliches Lied. (Tieck: Eckbert)

(46)Eins, zwei, drei, eins, zwei, drei, zählte er, und bei drei krachten die beiden kleinen Schädel immer zusammen wie das reine Donnerwetter. (Heym: Irre)

Wendungen des Benennens oder Bezeichnens

Diese Wendungen drücken eher einen Zustand als eine Sprachhandlung aus. Typische Verben sind heißen, bezeichnen, genannt werden u.ä.

(47) In einer Gegend des Harzes wohnte ein Ritter, den man gewöhnlich nur den blonden Eckbert nannte. (Tieck: Eckbert)

(48) Meine Arbeit wurde gesegnet. ›Der große Jäger vom Schwarzwald‹ hieß ich. (Kafka: Gracchus)

Inkohärente Äußerungen

Hierunter fallen Äußerungen ohne kommunikativen Inhalt ebenso wie Interjektionen. Fälle, in denen das Verb nur eine Lautäußerung spezifiziert (z.B. schreien, jammern), werden nur dann überhaupt als Wiedergabe markiert, wenn der Kontext nahe legt, dass sie Worte enthalten.

(49) [...] dann hörte ich die Alte husten und mit dem Hunde sprechen, und den Vogel dazwischen, der im Traum zu sein schien, und immer nur einzelne Worte von seinem Liede sang. (Tieck: Eckbert)

(50) Trostlos jammerten beide, als sie am vierten Tage die Hütte eines Einsiedlers auf einem Felsen erblickten [...] (Bernhardi: Belinde)

(51) Hier lag ein Haufen Erschlagener, hier ächzte noch eine Stimme unter dem Schutte, hier schrien Leute von brennenden Dächern herab [...] (Kleist: Erdbeben)

Stimme und Stimmqualität

Wenn nur auf die Stimmqualität Bezug genommen wird, ist dies ebenfalls ein Randphänomen von Redewiedergabe, da zwar eine Sprachhandlung stattfindet, aber der kommunikative Gehalt keine Rolle spielt.

(52) Belinde bemerkte, wie ihre Augen [die der Alten] vor Wuth anfingen zu glänzen, daß sie heut noch so wenig gethan hatte; sie hörte schon die kreischende Stimme der Alten, und warf sich voll Verzweiflung auf den Boden. (Bernhardi: Belinde)

Geschriebenes (writing)

‚Geschriebenes’ bezeichnet eine schriftliche Fixierung von Sprache zum Zweck der Kommunikation. Beispiel für Randphänomene sind Unterschriften, zitierte Buchtitel und schriftliches Rechnen, wo jeweils eine Schreibhandlung stattfindet, die aber nur sehr bedingt der Kommunikation dient.

(53) Seine Gedichte, deren einige allerdings, mit »Y« unterzeichnet, in einem kleinen Salzburger oder Grazer Blättchen veröffentlicht wurden, ragten nicht sonderlich hervor [...] (Schnitzler: Ypsilon)

(54) Es war niemand mehr im Schlosse wach, als die Ausgeberin, welche in schweren Ziffern, noch bei später Nacht, an der Küchenrechnung kalkulierte; [...] (Musäus: Entführung)

(55) Die Kandidatin wurde sanfter. Sie zog ein dickes Heft hervor. »Über die Verkümmerung der Stimmbänder am untern Kehlkopf der Luftröhre bei den weiblichen Singvögeln.« (Janitschek: Weib)

Gedanken (thought)

Die Definition von ‚Gedanken‘ zum Zweck der Identifizierung von Wiedergabe in literarischen Texten ist um einiges komplexer als die von Rede und Geschriebenem, weshalb an dieser Stelle etwas weiter ausgeholt werden soll.

Zwischen der Wiedergabe von Rede oder Geschriebenem und der Wiedergabe von Gedanken gibt es einen entscheidenden Unterschied: Während es in der realen Welt theoretisch feststellbar ist, ob und wenn ja welche Rede oder welcher Text vorlag, sind Gedanken niemals von außen wahrnehmbar, und die Entscheidung, wann eine kognitive Leistung als Gedanke zu werten ist, ist alles andere als eindeutig. Die Analogie mit dem wiedergegebenen ‚Original‘ funktioniert darum auf Gedanken und Bewusstseinsinhalte übertragen nicht reibungslos. Dennoch existieren zahlreiche Kategoriensysteme für Gedankenwiedergabe, die völlig parallel zu denen für die Wiedergabe von Rede aufgebaut sind. Gedanken werden dabei wie stumme bzw. innere Rede behandelt, die ebenso wie verbalisierte Rede wiedergegeben werden kann.

Gerade im Rahmen dieser Studie spielen systematische und formale Kriterien eine große Rolle, da nur sie an der Oberfläche identifiziert und damit bei der automatischen Erkennung verwendet werden können. Darum ist es sinnvoll, auf der Parallelität von Rede- und Gedankenwiedergabe zu beharren.

Für die Zwecke der manuellen Annotation bezeichnet ‚Gedanke’ demnach in seiner prototypischen Bedeutung einen bewussten, analytischen, kognitiven Prozess.

Diese Definition ist enger als in anderen Darstellungen weshalb für die wichtigsten Typen von Randphänomenen Werte für das Attribut border definiert wurden. Diese erlauben es, die Definition dessen, was als Gedanken gesehen wird, bei der Auswertung flexibel zu verändern, indem man jeweils bestimmte Randtypen gezielt ausblenden kann. Die Typen von Grenzfällen werden im Folgenden beschrieben.

percept: perzeptive Wahrnehmungen

Perzeptive Wahrnehmungen werden oft ausgedrückt mit Verben wie z.B. erkennen oder merken.

(56) Plötzlich merkte er, daß auf seiner Weste noch ein großer Blutfleck war. (Heym: Irre)

state: kognitive Zustände und Eindrücke

Beispiele für kognitive Zustände sind Wendungen wie wissen oder der Ansicht sein; Eindrücke werden z.B. ausgedrückt mit jemandem ist so als ob und es scheint jemandem.

(57) Die Alte war schon einige Tage abwesend, als ich mit dem festen Vorsatze aufstand, mit dem Vogel die Hütte zu verlassen, und die sogenannte Welt aufzusuchen. (Tieck: Eckbert)

unspec: Andere Grenzfälle

Abgesehen von den beschriebenen Gruppen kann es weitere Fälle geben, in denen das border-Attribut vergeben wird. Dies sind insbesondere Konstruktionen, bei denen Propositionen, die Gedanken der Figur wiedergeben, mit untypischen Einleitungen verwendet werden, wie etwa in den folgenden beiden Instanzen von indirect_thought:

(62) Er sah bald den Jeronimo schüchtern an, bald überflog er die Versammlung, ob nicht einer sei, der ihn kenne? (Kleist: Erdbeben)

(63) In dem Maße wie die Reize des jungen Fräuleins aufzublühen begannen, stimmten sich die Absichten der Mutter höher hinauf, durch sie den Glanz des verlischenden Geschlechtes noch recht zu erheben. (Musäus: Entführung)

In Beispiel (62) ist der Gedanke mit einer Handlung (und implizit mit einer Wahrnehmung) verbunden, in Beispiel (63) handelt es sich eigentlich nicht um einen spezifischen Gedanken, sondern um eine sich allmählich entwickelnde Einstellung. Da jedoch auch bei Redewiedergabe nicht immer nur einzelne Sprachhandlungen präsentiert werden, kann auch dies eine legitime Gedankenwiedergabe sein.

Hinweis zu Gefühlsregungen

Die Abgrenzung von Gedanken zu Gefühlsäußerungen ist besonders schwierig. Hier gilt: Wenn die Gefühlsäußerung mit einem propositionalen Inhalt verknüpft ist, kann sie in Ausnahmefällen als Gedankenwiedergabe gelten. Dies ist im Grunde nur bei indirect-Konstruktionen der Fall, die ein Einleitungswort verwenden, dass eine Gefühlrregung bezeichnet, wie etwa in den folgenden Fällen:

(58) Aber ach! Deine Hoffnung, daß durch uns deine Rettung kommen werde, ist vergeblich. (Hauff: Kalif)

(59) Glückliche Tage, Wochen und Monden waren ihnen ungezählt verflossen, als Belinde fühlte, daß die Zeit nahe sey, wo noch ein dritter Hausgenoß ihre Freude theilen würde; sie empfand, daß sie Hülfe bedürfe, und zog ein Blatt aus der Blume. (Bernhardi: Belinde)

Entgegen früherer Regelungen werden Fälle wie 58 und 59 einfach als indirect thought ohne border-Attribut annotiert.

Wenn dies jedoch nicht der Fall ist, handelt es sich überhaupt nicht um Gedankenwiedergabe. So wird in den folgenden Beispielen der kursiv gesetzte Satzteil nicht als Wiedergabe annotiert.

(60) Die Glocken, welche Josephen zum Richtplatze begleiteten, ertönten, und Verzweiflung bemächtigte sich seiner Seele. (Kleist: Erdbeben)

(61) Stillschweigend ritten alle, der Vater war erzürnt, die Diener betrübt, daß sie ihr Fräulein so verstoßen sahen. (Bernhardi: Belinde)

Beispiel (60) ist keine Wiedergabe, da lediglich die Gefühlsregung beschrieben wird. In Beispiel (61) liegt trotz der Form ebenfalls keine Wiedergabe vor, da der dass-Satz eine Begründung für die Trauer der Diener enthält, aber nicht deren propositionalen Inhalt.

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